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Normative Soziodynamik
Kurzeinführung in die normative Soziodynamik
Hermann H. Rampacher Stand 26. Juli 2014
1. Moral, Ethik, Normen, Normenkonflikte und kollektive Gerechtigkeit
Wer eine gute moralische Erziehung genossen hat, weiß, was "richtig" oder was "falsch" ist sein Leben lang; er weiß aber nicht
warum, das richtig ist, was die im Elternhaus eingeübten Normen gebieten, oder falsch, was sie verbieten. Aristoteles hat erstmals
versucht, Licht in dies intellektuelle Dunkel zu bringen; er konzentrierte sich auf individuelle Akteure und deren persönlichen
Charaktereigenschaften, die er "Tugenden" nannte; sie bringen ein autonomes Individuum dazu, weder geizig, noch verschwenderisch
zu sein. Seine Theorie orientierte sich an gesellschaftlichen Traditionen, daher die Bezeichnung Ethik. Heute wird Ethik von
akademischen Fächern wie Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft gelehrt. Versionen der philosophischen Ethik analysieren
nicht nur Normen oder Pflichten, sondern auch kollektive "Wertbegriffe" wie "Gerechtigkeit", "Frieden", Gemeinsinn oder "Freiheit".
Diese Fächer versuchen heute ohne Rückgriff auf Erfahrung zu verstehen, wie Werte uns zu speziellen Handlungsnormen anleiten könnten.
Weder Aristoteles noch die philosophische Ethik haben sich indes systematisch mit Grenzen des gemeinsamen moralischen Erbes der
Hochkulturen, in Normen gegossen, beschäftigt. Was tun, wenn Normen kollidieren, Konflikte zwischen ihnen entstehen? Hier zeigt
sich die Moralphilosophie zu oft als ratlos. Viele Akteure ziehen aus dieser Ratlosigkeit bei akuten Konfliktfällen wie eine
geplante Selbsttötung oder eine Abtreibung den falschen Schluss, die Moral insgesamt zu verwerfen. Dabei spielen moralische
Normen bis heute die entscheidende Rolle für Gerechtigkeit und Gemeinsinn (Solidarität) der gesellschaftlichen Ordnung, wie
wir sehen werden.
2. Eine Hypothese über den Zusammenhang zwischen Normen und Gerechtigkeit
Menschen haben aus praktischen Erfahrungen erkannt, dass manche Eingriffe in den "Lauf der Dinge" Menschen sowie Staat und
Gesellschaft schaden, andere dagegen Menschen helfen und zugleich Staat und Gesellschaft stabilisieren. Damit nicht jeder
Akteur aufs Neue entscheiden muss, ob Eingriffe schädlich oder hilfreich sind, haben eben deshalb Hochkulturen Soll-Vorschriften
geschaffen. Bei strikter Beachtung, vor allem der universellen Verbote -, hindern sie Akteure, Menschen zu schaden (1).
Es ist leicht einzusehen, warum individuelle wie auch kollektive Akteure - z. B. Unternehmen, Staaten - Normen aus dem gemeinsamen
moralischen Erbe der Hochkulturen ignorieren: Wer sie ignoriert, verschafft sich Vorteile zu Lasten derer, die normenkonform
handeln; wir kennen diesen Sachverhalt aus Bereichen, in denen Wettbewerb herrscht, so in Spiel, Sport (Doping!) und in der
Wissenschaft (Betrug, Plagiat). Die Hypothese liegt daher nahe, die kollektive Gerechtigkeit drohe zu sinken, sobald Akteure
eines Landes Normen gehäuft übertreten und so Normenkonflikte - sie wirken wie gesellschaftliche Krankheiten - heraufbeschwören.
Umgekehrt wird die Gerechtigkeit gestärkt, die Zahl der Normenkonflikte sinkt, wenn sich mehr und mehr Akteure autonom an Normen
aus dem Weltkulturerbe orientieren.
3. Bisherige Versuche zum Verständnis von Gerechtigkeit
Von Anfang an und bis heute wurde unentwegt versucht, Gerechtigkeit wie die sie stützenden Normen verbal zu erklären (2, 3, 4,5,6).
Dieses Vorgehen wird der Tatsache nicht gerecht, dass Gerechtigkeit und Frieden sich laufend ändern; beide beschreiben dynamische
gesellschaftliche Zustände, die nicht nur untereinander, sondern auch mit weiteren wie Gemeinsinn, Freiheit oder einer
gesellschaftlichen Dynamik verknüpft sind. Deshalb ist ein Paradigmenwechsel angezeigt: Mindestens Gerechtigkeit, Frieden,
Gemeinsinn, Freiheit und Fortschritt - dieser muss nachweisbar der Gesellschaft als ganzer wie unmittelbar den einzelnen
Individuen zugutekommen - mutieren zu dynamischen gesellschaftlichen Zustandsgrößen. Diese sind Funktionen der veränderlichen
relativen Häufigkeiten, mit denen insbesondere moralische Gebote - wie Bedürftigen beizustehen - und universelle Verbote - wie
des Verbots von Gewalt, Betrug, Korruption, Bestechung, Beleidigung und Übergriffen auf fremde Sachen befolgt werden. Zu diesen
Vorschriften treten in unserer Zeit neuartige Soll-Vorschriften, um Risiken nicht nur im Umgang unter Menschen - wie es die
meisten moralische Normen leisten -, sondern auch mit Natur, Technik und globaler Wirtschaft besser zu beherrschen.
4. Global anwendbare Normen zur besseren Beherrschung anthropogener Risiken
In einem ersten Schritt identifizieren wir elementare Universalnormen, die an Verantwortliche appellieren, bestimmte Eingriffe
in den "Lauf der Dinge" weltweit autonom zu unterlassen, um auf so klar erkennbare anthropogene Risiken zu mindern, deren
Eintritt bezifferbare Schadensereignisse mit sich bringen würde.
Ein nahezu triviales Beispiel zeigt die Vorgehensweise: Wenn global das Gewaltverbot strikt beachten werden würde, wäre das
Risiko, durch Gewalt geschädigt zu werden, weltweit gebannt. Ähnlich kann man für die übrigen, in allen Hochkulturen dokumentierten,
verbotenen Eingriffe vorgehen. Indes lassen sich auf diese Weise nicht nur "klassische" moralische Normen reproduzieren, sondern
auch "moderne" wie Müll weder in Wäldern und Auen, noch in öffentlichen Anlagen, am Rande von Autobahnen oder in Gewässern
"zu entsorgen" oder das Tabakrauchen zu meiden. Es ist leicht, die skizzierten Argumente auf alle elementaren Eingriffe
auszudehnen, Eingriffe, deren Folgen durch den gesunden Menschenverstand absehbar sind.
Analog gibt es Eingriffe, die gerade nicht zu unterlassen sind. Stellen wir uns nur einmal vor, niemand würde Hilfe zur
Selbsthilfe oder Beistand in Notfällen leisten, der Untergang unserer Spezies wäre vorprogrammiert.
Das allgemeine Verfahren für soziale Normen aller Art deuten wir nur an. Dazu braucht es das aktuelle durch
Erfahrungswissenschaften gewonnene Wissen darüber, welche globalen Risiken mit Eingriffen wie die der Kernspaltung oder der
Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas für das Überleben der Menschheit langfristig verbunden wären.
Haben wir eine einzelne Verbotsnorm identifiziert, können wir auch den Schaden beziffern, der mit ihrer - normwidrigen -
Ausführung verbunden wäre: Er ist gleich dem - meist kollektiven - Aufwand, den normwidrig eingetretenen Zustand in den
ursprünglich zurückzuführen. Übersteigt der Aufwand unser Können, ist Schaden irreversibel, übersteigt jede Grenze, ist
anschaulich unendlich, wie auf der Individualebene zum Beispiel bei einem von Menschen verursachten Todesfall.
5. Normative Regime
Aus n - n eine natürliche Zahl - global möglichen Eingriffen, die mit den höchsten endlichen Schäden verbunden sind, würden
sie normwidrig vorgenommen werden, lassen sich globale Eingriffsvektoren zusammenstellen, beginnend mit den Eingriffen,
die mit dem größten und endend mit denen, die mit dem - relativ - kleinsten Schaden verknüpft sind. Je größer n, desto
genauer die Darstellung. Eingriffsvektoren erweisen sich indes untereinander als abhängig in dem Sinne, dass ein trotz
Verbot vorgenommener Eingriff das Risiko einschließt, dass diese falsche Handlung weitere, an sich verboten Eingriffe
zur Folge hat wie wir noch ausführlicher zeigen werden. Deshalb darf, um Schaden sicher zu verhüten, kein einziger der
n verbotenen Eingriffe ausgeführt werden dar. Zu jedem Element eines Eingriffsvektors gehört daher ein Element des
zugehörigen Normvektors und umgekehrt; ein Element des Normvektors ist entweder "1", wenn der zugehörige Eingriff in
einem Sozialsystem vorkommt, oder "0", wenn es in dem fraglichen System den Eingriff nicht gibt. Wenn zum Beispiel
ein Land keine Kernreaktoren betreibt, gibt es den - langfristig wegen seiner Folgen verbotenen - Eingriff der Kernspaltung
nicht. Eingriffs- und Normvektor zusammen geben ein spezifisches normatives Regime, etwa für ein spezifisches Land, wider.
Der Eingriffsvektor allein ist ein globaler Vektor, er spiegelt die global möglichen Eingriffe einer Zivilisation wider,
die sie aufgrund des erreichten wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstandes vornehmen könnte.
6. Risikoabschätzungen
Zu jedem Eingriff, der zu einer "1" im Normvektor gehört, gibt es ein - über einen gewissen Zeitraum zu messendes Risiko,
mit dem der eigentlich verbotene Eingriff doch vorgenommen wird. Lehrt doch schon die praktische Lebenserfahrung, dass sich
nicht alle an Normen, seien es moralische oder rechtliche halten! Am gefährlichsten für ein zu untersuchende Sozialsystem und
seine absehbare Zukunft ist es, wenn gewaltsame Eingriffe - ob von Bürgern, Terroristen oder auch dem Staat selbst durch
Todes- oder häufige Haftstrafen - mit höherer Wahrscheinlichkeit vorgenommen werden und daher in dem entsprechenden Sozialsystem
wie einem Land dessen innerer Frieden stark gefährdet ist. Am kleinsten sind die Unsicherheiten, wenn sie sich auf Eingriffe
beziehen, die durch die größten Zahlen, sagen wir wenig kleiner nur als n, charakterisiert sind.
Ein Beispiel
Eingriffsvektor | e = [e(1), e(2), e(3),…….., e(n)] |
Normvektor | n = [ 0, 0, 1, ………, 1 ] |
Risikovektor | r = [ 0, 0, 0,01……, 0,06] |
Die Deutung
Die beiden ersten Eingriffe kommen im Sozialsystem nicht vor, der erste existierende Eingriff ist der zu einem kleineren Schaden e(3), das zugehörige Risiko, dass er trotz Verbots vorgenommen wird, sei 0,01. Beim existierenden Eingriff e(n), der mit dem relativ geringsten Schaden verknüpft ist, ist das zugehörige Risiko, dass er normwidrig ausgeführt wird 0,06. In dem Sozialsystem gibt es - weil die beiden ersten Eingriffe nicht vorkommen - zum Beispiel keine zum Tode führende Gewalt durch individuelle oder kollektive Akteure.
7. Risikokorrelationen zwischen unterschiedlichen Eingriffen
Wer zum Beispiel Menschen beleidigt, muss mit gewaltsamen Reaktionen rechnen, Ähnliches trifft zu, wenn zum Beispiel ein
Akteur betrügt, fremde Sachen wegnimmt oder zerstört. Die Größe der Risiken der bei normwidrigen Eingriffen zu erwartenden
Reaktionen ist unterschiedlich groß, die Risiken müssen daher empirisch abgeschätzt oder durch Laborversuche ermittelt werden.
Wer zum Beispiel tief Gläubigen etwas wegnimmt, wird seltener auf gewaltsame Reaktionen treffen als bei nichtreligiösen
Mitmenschen. Um Gewalt sicher zu verhindern müssen daher alle normwidrigen Eingriffe unterbleiben. Dies ist der eigentliche
Grund, warum in der philosophischen Ethik - oder bei religiösen Verboten - darauf bestanden wird, dass jedes Verbot "unbedingt"
zu beachten ist.
Indes hängen nicht nur Soll-Vorschriften mit Verbotscharakter mehr oder weniger eng zusammen, sondern auch Verbote und
Gebote. Wenn Hungernden nicht unverzüglich geholfen, jungen Menschen eine geeignete Ausbildung - Ausbildung ist Hilfe zur
Selbsthilfe - vorenthalten wird, muss eine Gesellschaft damit rechnen, dass diejenigen, die auf Hilfe angewiesen sind und
diese vermissen, sich das Lebensnotwendige durch Übergriffe, durch normwidrige Eingriffe zu beschaffen suchen. Wie schon
Brecht schreibt, "das Fressen kommt vor der Moral".
Bürger und Bürgerinnen eines Landes, denen es gut geht, können herrschende Verbote noch so gut erfüllen, wenn sie
Mitmenschen, die ihre Hilfe brauchen, nicht in dem Maße autonom - somit nicht nur gezwungen durch das Recht - so beistehen,
wie sie es können, ist der kollektive Kollaps ebenso vorprogrammiert wie bei häufigem direkten Übertreten von Verbotsnormen.
Es genügt nicht - was man öfters hören kann -, in seinem Leben die berühmten "Zehn Gebote", die eigentlich Verbote sind,
strikt zu beachten.
8. Literaturhinweise
(1) D'Holbach, Paul Thiry, Verantwortlichkeit und Strafe (1770) zitiert nach Hubert Schleichert, S. 378, Von Plato bis Wittgenstein, München 1998
(2) Kelsen, Hans, Was ist Gerechtigkeit; Stuttgart 2000
(3) Rawls, John, Gerechtigkeit als Fairneß, Frankfurt am Main 2003
(4) Sen, Armatya, Deie Idee der Gerechtigkeit, München 2010
(5) Gerechtigkeit, S. 330, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1974
(6) Gerechtigkeit, S. 97, Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2008
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