Theoretische Ethik

Woher weiß man, was moralisch ist?

Kurzeinführung in die empirische Risikoethik

Eingereichter Vortrag bei der Wittenbergkonferenz 2010 am 18. Juni 2010


Für die Beantwortung der hier gestellten Frage ist traditionell die Moralphilosophie oder philosophische Ethik zuständig. Was ich vortrage, hat dagegen methodisch nichts mit Philosophie zu tun, da die zu skizzierende "empirisch-normative Risikoethik" an Fakten orientiert und damit - wie Physik oder Medizin - empirisch wahrheitsfähig ist. Doch bleibe ich - ähnlich wie die Physik beim Wort "Atom" bleibt - bei der Kurzbezeichnung "Ethik".

Moralische Verhaltensweisen lernen junge Menschen in ihrem Elternhaus Hinter diesen steht nur die Autorität der Eltern. Hinter den formal ähnlichen rechtlichen Normen dagegen die Macht des Staates.

Was als moralisch gilt, ist in allen Weltkulturen und -religionen , wie wir aus der Geschichte wissen, im Kern erstaunlich gleich. Die Moralphilosophie konnte dies Faktum bis heute nicht zweifelsfrei erklären, denn jede einzelne philosophische Richtung hat jeweils ihre eigenen Begründungen, untereinander sind sie inkompatibel.

In der Risikoethik werden moralische Normen als soziale Erfindungen, vergleichbar dem Rad als technische, eingestuft. Beide spiegeln rein praktische Erfahrungen von Generationen wider.

Heute können wir moralische Normen methodisch konstruieren, entweder durch Gedankenexperimente zur Risikoabschätzung oder heute - immer häufiger - mit Hilfe von Computersimulationen auf der Basis der wissenschaftlichen Ermittlung solcher verhaltensabhängiger Risiken, die wir durch unser Tun oder Lassen beeinflussen können. Viele solcher Risiken werden heute unter Einsatz von Ergebnissen der Erfahrungswissenschaften von Fachabteilungen der großen Rückversicherungen ermittelt.

In dieser Kurzeinführung beschränke ich mich auf moralische Normen, bei denen die Risikoabschätzung schon durch Gedankenexperimente möglich ist.

Wir können daher inzwischen wissen, was im Einzelnen moralisch ist. So macht eine "starke moralische Norm", im Grenzfall universell beachtet, ein zugeordnetes verhaltensabhängiges Risiko exakt zu Null.

Ein Beispiel: Je weniger Gewaltdelikte - durch Krieg oder Kriminalität - in einem Land vorkommen, desto größer ist seine absehbare Stabilität. Zum Beispiel macht dir Verhaltensnorm, jede körperliche Gewalt zu unterlassen, das verhaltensabhängige Gewaltrisiko in diesem Land zu Null. Ähnliches träfe zu, wenn etwa jede Art von Betrug, von Wegnahme- oder Unterschlagung sowie Zerstörung fremder Sachen weitgehend unterlassen würde.

Doch geht es In der Moral nicht nur um starke Normen, um Unterlassen. Selbst wenn eine "schwache Norm", stets mit einer Tat verknüpft, universell befolgt würde, dann brächte dieser wahrhaft vollkommene Gehorsam nicht das zugehörige Risiko zum Verschwinden.

Ein Beispiel hierzu: Auch wenn alle Verantwortlichen Menschen helfen würden, denen sie, in den Grenzen ihrer Kompetenz, beistehen könnten, würde nach aller Erfahrung in Einzelfällen dieser Beistand scheitern.

Damit haben wir folgenden Satz gewonnen: Moralisch ist jede ausgeführte oder unterlassene Handlung, die aufgrund unserer praktischen oder wissenschaftlichen Erfahrung absehbar Verhaltensrisiken mindert, denen unsere kollektive Langfriststabilität ausgesetzt ist.

Was geschieht nun, wenn eine so als moralisch qualifizierte Handlung unbeachtet bleibt? Zwei Beispiele:

Erstens. Jemand wird von Menschenhand getötet; dadurch tritt lokal ein neuer Zustand ein, der auch durch größten kollektiven Aufwand nicht mehr in den Zustand vor Durchführung dieser Tat zurückgeführt werden kann. Wir sagen dafür: Tötungshandlungen haben unendlichen Rang oder, äquivalent, es ist durch Übertretung des Tötungsverbots lokal nicht wiedergutzumachender Schaden entstanden.

Anders verhält es sich mit der lokalen Übertretung der moralischen Traditionsnorm, nichts Fremdes wegzunehmen. Um hier den vorigen Zustand wieder herzustellen, ist der notwenige kollektive Aufwand auf jeden Fall endlich, der Rang der verletzten Norm daher ebenfalls endlich.

Beiden Fällen gemeinsam ist, dass durch die Übertretung einer Norm individueller und kollektiver Schaden nicht mehr simultan verhindert werden. Denn sowohl die Wegnahme etwa eines Gegenstandes als auch die Tötung eines Menschen betreffen nicht die kollektive Langfriststabilität, wohl aber ist dadurch lokal entweder wieder gutzumachender, oder aber nicht wieder gutzumachender, folglich irreversibler Schaden.

Selbst der letzte tangiert aber "nur" Angehörige, nicht, bleibt es beim Einzelfall, die kollektive Zukunftsfähigkeit. Diese kann indessen dann ebenfalls betroffen sein, wenn es nicht beim Einzelfall bleibt. Es gilt das wohlbewährte Erfahrungsprinzip "principiis obsta".

Dies empirische Prinzip stellt die soziale Umgebung - auch den für ein Land handelnden Staat - vor folgende Entscheidungssituation. Entweder sie folgt dem eben zitierten Prinzip; dann muss sie dem Verantwortlichen, der die Norm übertreten hat, wirksam widerstehen; dies geht fast nie, ohne selbst wenigstens eine der - an sich universell geltenden - moralischen Normen zu übertreten und damit selbst weitere Risiken einzugehen. Widersteht die Umgebung nicht und lässt den Dingen ihren Lauf, so fördert sie das wohlbekannte Risiko, dass dem ersten Täter, der offenbar keine Sanktionen zu befürchten hat, weitere folgen und dadurch - geht diese Entwicklung ohne Eingriffe immer weiter - irgendwann auch die kollektive Stabilität gefährdet wird.

Es kann also in einem solchen "moralischen Dilemma" - was schon der Begründer der Ethik, Aristoteles, konstatiert hat, faktisch nur noch um die - meist schwierige - Wahl des kleinsten Übels gehen.

Während die Moralphilosophie bis heute keine überprüfbaren Methoden angeben konnte, wie solche Dilemmata beizulegen sind, gibt es solche in der empirisch-normativen Risikoethik.

Dazu müssen wir uns erinnern, dass starke wie schwache moralische Normen primär dazu da sind, die kollektive Stabilität zu stärken, freilich unter der Bedingung, dass diese Stärkung - wenn faktisch möglich - nicht zu Lasten des Einzelnen geht.

Bleiben wir bei den beiden Beispielen. Geht es um übertretene Normen endlichen Ranges, darf eine mögliche Reaktion nicht implizieren, dass durch diese zusätzlich Normen größeren Ranges übertreten werden. So darf - wie zum Beispiel im Koran grundsätzlich zugelassen - einem Dieb niemals die Hand abgehackt werden, weil die Gesundheit, wenn überhaupt, nur mit größerem kollektiven Aufwand wieder herzustellen ist als - von extremen Ausnahmen abgesehen - die Wiedergutmachung eines Schadens durch Diebstahl.

Betrachten wir ein weiteres Dilemma, in dem mindestens in einem der möglichen Entscheidungsfälle eine Norm unendlichen Ranges involviert ist. Bei einer geplanten Abtreibung - sehen wir, um den Fall nicht zu sehr zu komplizieren, von einer vorangegangenen Vergewaltigung ab - steht das Lebensrecht des Ungeborenen höher, als, sagen wir, Karrierechancen der Mutter; vorausgesetzt ist hier, dass die Gemeinschaft, in die der das noch Ungeborene einmal leben soll, für Mutter und Kind so sorgt, wie beide es für einen absehbar guten Lebensweg brauchen; verweigert sich das soziale Umfeld bis hin zum Staat, so ginge jeder Zwang zur Geburt zu Lasten der Mutter und wahrscheinlich auch des Kindes. In einem solchen Fall ist normativ ein Abbruch der zulässig; die Verantwortung trägt hier die Gemeinschaft, nicht die verzweifelte Mutter.

Ein letztes, durchaus aktuelles Beispiel. Ein Mensch, der nichts mehr für sein soziales Umfeld oder dessen kollektiv Stabilität tun kann, so weil sein medizinischer Zustand dies absehbar endgültig nicht mehr zulässt, dem steht es moralisch frei, über sein Leben selbst zu verfügen. Er kann, wenn ihm eine Selbsttötung faktisch nicht mehr möglich ist, um aktive Sterbehilfe bitten. Hier klaffen in unserem Land Moral und Recht auseinander.

Im Umgang mit menschlichem Leben gilt wegen seines hohen Ranges, dass niemand -abgesehen vom eben behandelten Fall - darüber verfügen kann, auch nicht der Staat. Daher ist auf jeden Fall die Todesstrafe moralisch unzulässig. Nur, wenn Leben gegen Leben steht, dann reduziert sich der Rang der Norm, die auch das Leben des Täters schützt, gegenüber dem Rang der Norm, die das Leben des Opfers bewahrt. Ein zulässiges legales Beispiel ist der "finale Rettungsschuss" oder - allgemeiner noch - Notwehr zwischen Menschen wie zwischen Staaten; bei diesen spricht man dann von Verteidigung.

Militärische Interventionen sind genau dann zulässig, wenn in einem Land die Menschenrechte dauerhaft und brutal unterdrückt werden. Notwenige Vorbedingung ist, dass die Interventionskräfte nach aller Erfahrung mit großer Sicherheit ausreichen, die Verächter der Menschenrechte rasch niederzuringen. Vor Medizinern ist folgende Analogie zulässig: Eine lebensrettende Operation ist sinnvoll, wenn absehbare Risiken ihres Scheiterns kleiner sind, als die des Gelingens.

Nach allem, was wir besprochen haben, wird deutlich, dass selbst demokratische Mehrheitsmeinungen da an eine klare Grenze stoßen, wo sie gegen moralische Normen verstoßen und so das kollektive Überleben aufs Spiel setzen.

Hier möchte ich meine Kurzeinführung abbrechen; ich stehe aber gerne für Fragen - hermann@rampacher.de - zur Verfügung.